Prof. em. Dr. Andreas Donatsch im Interview mit NPK: Grundsatzfragen zur Privatklägerschaft nach 10 Jahren StPO
NPK:
Sehr geehrter Herr Professor Donatsch. Vielen Dank, dass Sie unsere Anfrage für ein Interview mit dem Netzwerk Privatklägerschaft NPK angenommen haben. Wir würden Ihnen gerne einige Grundsatzfragen zur Stellung der Privatklägerschaft im Strafverfahren stellen.
Die Strafprozessordnung erlaubt einer direkt durch eine Straftat geschädigten Person sich im Strafpunkt, im Zivilpunkt oder in beiden Punkten als Partei am Strafverfahren zu beteiligen. Was ist der gesetzgeberische Gedanke hinter diesen Möglichkeiten?
Andreas Donatsch:
In der Botschaft zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts vom 21. Dezember 2005 finden sich dazu keine Ausführungen. Es scheint, dass im Wesentlichen die bisherige Gesetzgebung der Kantone übernommen worden ist. Zudem dürften die dem Opferhilfegesetz zugrundeliegenden Ziele eine wesentliche Rolle gespielt haben. Schliesslich wird der geschädigten Person mit dem Strafantragsrecht durch das materielle Recht die Möglichkeit eines Einflusses auf die Bestrafung eines allfälligen Täters zugestanden.
NPK:
Wie beurteilen Sie diesen Grundgedanken? Befürworten Sie das Recht der geschädigten Person, sich im Strafverfahren als Partei einzubringen?
Andreas Donatsch:
Wenn es das Ziel des Strafrechts ist, den durch die Straftat gestörten Rechtsfrieden wiederherzustellen und dadurch unter anderem zu verhindern, dass das Opfer bzw. die geschädigte Person «die Sache in die eigene Hand nimmt», so ist die Beteiligung der geschädigten Person im Strafverfahren sehr wichtig. Der Rechtsfrieden kann nach erheblichen Verletzungen von Rechtsgütern nämlich nur unter Einbezug aller an der Straftat beteiligten bzw. davon betroffenen Personen wiederhergestellt werden.
NPK:
Und wie stehen Sie dazu, dass die Privatklägerschaft adhäsionsweise zivilrechtliche Ansprüche geltend machen kann?
Andreas Donatsch:
Das ist gesetzlich in Art. 122 ff. StPO so vorgesehen. Die Regelung ist – jedenfalls in der Regel – aus prozessökonomischer Sicht sinnvoll und berücksichtigt die Interessen des Opfers und der geschädigten Person als mutmasslich durch das Delikt geschädigte Partei. In diesem Sinne ist eine gewisse Privilegierung der geschädigten Person (im Vergleich zur klagenden Partei im Zivilverfahren) in dem Sinne gerechtfertigt, dass sie mit Bezug auf die Sachverhaltsermittlung von den Untersuchungsergebnissen der Staatsanwaltschaft profitieren kann.
NPK:
Die StPO ist seit etwas mehr als 10 Jahren in Kraft. Haben sich die Teilnahmerechte, welche der Gesetzgeber der Privatklägerschaft eingeräumt hat, in dieser ersten Phase generell bewährt?
Andreas Donatsch:
Die Teilnahmerechte haben sich im Wesentlichen bewährt. Aus meiner Sicht würde es jedoch genügen, wenn der beschuldigten Person das Recht auf Teilnahme an der Befragung von Belastungszeugen im Sinne der Minimalgarantie nach Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK bzw. Art. 14 Ziff. 3 lit. e IPBPR in der Regel einmal im Verfahren gewährt würde.
NPK:
Bei den speziellen Verfahrensarten springt die sehr unterschiedliche Stellung der Privatklägerschaft ins Auge. Im abgekürzten Verfahren hat sie ein Vetorecht und kann damit erzwingen, dass eine Tat im ordentlichen Verfahren abgeurteilt wird. Ein Interesse daran hat die Privatklägerschaft insbesondere, wenn die beschuldigte Person im abgekürzten Verfahren sich weigert, Hand zu einem Vergleich über die Zivilforderungen zu bieten. Demgegenüber werden im Strafbefehlsverfahren die Zivilforderungen auf den Zivilweg verwiesen, es sei denn die beschuldigte Person anerkenne sie ausnahmsweise. Was halten Sie von dieser gegensätzlichen Lösung?
Andreas Donatsch:
Im abgekürzten Verfahren werden nicht nur die Untersuchungsmaxime, sondern auch die Rechtsmittelmöglichkeiten in erheblichem Masse eingeschränkt. Zudem besteht – wenigstens faktisch – die Möglichkeit, dass die beschuldigte Person und die Staatsanwaltschaft über den anklagerelevanten Sachverhalt und die Höhe der Sanktion verhandeln. Eine derartige Möglichkeit war dem früheren Strafverfahrensrecht fremd. Unter diesem Gesichtswinkel betrachtet räumt die StPO der Privatklägerschaft eine starke Stellung ein, weil sie das Verhandlungsergebnis durch Verweigerung ihrer Zustimmung ablehnen kann. Demgegenüber steht und fällt der Strafbefehl mit der Zustimmung bzw. mit dem Verzicht auf Einsprache durch die beschuldigte Person. Aus diesem Grund ist es verständlich, dass im Strafbefehlsverfahren die Zivilforderung auf den Zivilweg verwiesen wird, sofern die beschuldigte Person diese nicht anerkennt.
NPK:
Noch eine Anschlussfrage zu abgekürzten Verfahren mit mehreren Privatklägern. Im Kanton Zürich haben die Staatsanwaltschaften die Praxis entwickelt, das Verfahren in Bezug auf eine die Anklageschrift ablehnende Privatklägerin abzutrennen und separat im ordentlichen Verfahren zur Anklage bringen, während die Fälle der zustimmenden Privatkläger vorweg im abgekürzten Verfahren abgeurteilt werden. Ist diese Vorgehensweise Ihrer Ansicht nach vertretbar?
Andreas Donatsch:
Mit der gesetzlich vorgesehenen Möglichkeit des abgekürzten Verfahrens werden mehrere Grundsätze des traditionellen Strafprozessrechts eingeschränkt. Unter anderem ist es für die Staatsanwaltschaft bei mehreren Mitbeschuldigten möglich, das abgekürzte Verfahren nur bei denjenigen beschuldigten Person durchzuführen, welche darum ersucht, und die übrigen im ordentlichen Verfahren zu verfolgen. Dies hat zur Folge, dass nicht nur die Stellung der beschuldigten Personen, sondern auch die prozessualen Möglichkeiten der Privatklägerschaft in den beiden Verfahrensarten unterschiedlich sind. Meines Erachtens ist dies mit dem Gesetz zu vereinbaren und entsprechend auch die Abtrennung von Verfahren, in welchen die Privatklägerschaft die Anklageschrift ablehnt.
NPK:
Namentlich im Bereich Wirtschaftskriminalität ist eine massive Überlastung der Staatsanwaltschaften zu beobachten. In Fällen, in denen keine Untersuchungshaft angeordnet wird und kein mediales Interesse besteht, werden Strafanzeigen teilweise zehn Monate oder länger gar nicht erst behandelt. Der Staat übt in solchen Fällen sein Gewaltmonopol nicht aus. Sollte der Gesetzgeber prüfen, ob gewisse Aspekte der Strafverfolgung privatisiert werden sollten, ähnlich wie dies mit den Untersuchungsbeauftragten im Finanzmarktrecht bereits der Fall ist oder wie in England, wo vom Crown Prosecution Service (CPS) selektionierte Anwälte als Vertreter der staatlichen Anklage vor Gericht auftreten? Natürlich könnte man alternativ auch die Rechte der Privatklägerschaft stärken.
Andreas Donatsch:
Zur Frage der Überlastung der Staatsanwaltschaften und Ihrer Feststellung, dass der Staat sein Gewaltmonopol nicht ausübe, nehme ich nicht Stellung. Wenn die Staatsanwälte im Bereich der Wirtschaftskriminalität überlastet sind, so dürfte dies primär mit unzureichenden Strafverfolgungskapazitäten zu tun haben. Es macht aus meiner Sicht keinen Sinn, gegebenenfalls entsprechende Kapazitäten in der Privatwirtschaft zu schaffen, da der damit verbundene Aufwand nicht geringer sein dürfte. Abgesehen davon würde die Privatisierung der Strafverfolgung erhebliche Zusatzprobleme mit sich bringen.
Neben der Zahl der Staatsanwälte ist im Übrigen auch deren Ausbildung und stete Weiterbildung für die Bewältigung der komplizierten Wirtschaftsfälle von grosser Bedeutung.
Schliesslich soll nicht unerwähnt bleiben, dass die Beteiligung der Privatklägerschaft in Wirtschaftsstrafsachen nicht zu einer Verminderung des mit derartigen Fällen verbundenen Aufwandes führt.
NPK:
Sehen Sie bei der Privatklägerschaft insgesamt einen Bedarf für Reformen – gehen die Rechte der Privatklägerschaft in bestimmter Hinsicht zu weit oder sind sie in gewissen Konstellationen ungenügend ausgestaltet?
Andreas Donatsch:
Ein zentrales Problem liegt wohl in der Zulassung der geschädigten Person als Privatklägerschaft. Die Praxis tut sich aus meiner Sicht schwer mit konzisen und einheitlichen Kriterien zur Unterscheidung zwischen unmittelbar und mittelbar geschädigten Personen, insbesondere auch mit Blick auf die Rechtsprechung zur Strafantragsberechtigung und zur Geschädigtenstellung bei Delikten, welche öffentliche Interessen schützen (z.B. bei Urkundendelikten oder bei der Rassendiskriminierung).
NPK:
Abschliessend sind wir natürlich interessiert, zu erfahren, was Sie von der Idee unseres Netzwerks denken und wo Sie Bedarf nach einem vertieften Erfahrungs- und Wissensaustausch im Bereich Vertretung von Privatklägern sehen?
Andreas Donatsch:
Ich beglückwünsche Sie zur Initiative, den Erfahrungs- und Wissensaustausch im Zusammenhang mit der Stellung der Privatklägerschaft zu fördern. Die Berücksichtigung der Privatklägerschaft ist zur Wiederherstellung des Rechtsfriedens von erheblicher Bedeutung.
Prof.em. Dr. Andreas Donatsch war zunächst Offizier bei der Kantonspolizei Graubünden und hat sich anschliessend für Strafrecht und Strafprozessrecht habilitiert. Während 30 Jahren war er Professor an der Universität Zürich und während 17 Jahren ordentlicher Richter am Kassationsgericht des Kantons Zürich. Schon vor seiner Emeritierung war er Konsulent in einer Anwaltskanzlei, seit einigen Jahren bei Umbricht Rechtsanwälte.
Das Interview führten die Gründer von NPK | RPP:
Dr. Adam El-Hakim LL.M., LALIVE SA
Dr. Tobias Schaffner LL.M., BALDI & CARATSCH